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Völkermord an den Armeniern: Warum viele Türken sich schwer tun es zu akzeptieren

Armenische Flaggen wehen im Vordergrund einer Moschee (Foto: Harout Arabian)

BOSTON. – Ein weiterer 24. April ist gekommen und gegangen. Es ist der Tag an dem Armenier auf der ganzen Welt an den Beginn des Völkermords an den Armeniern von 1915, als Tausende von ihren Vorfahren starben, gedenken.

von Gonca Sönmez-Poole

Ich bin eine 52-jährige türkisch-amerikanische Frau und ich muss zugeben, dass ich bis zu meinen späten Vierzigern noch nie ein Gespräch mit einer armenischen Person über den Völkermord an den Armeniern geführt hatte. Warum? Die Antwort liegt darin warum ich nun gezwungen bin über meinen eigenen persönlichen Weg und zwei Morde, die ein Vierteljahrhundert von einander entfernt liegen, zu schreiben.
Am 4. Mai 1982 erfuhr ich, dass ein Mann den ich kannte auf dem Heimweg von der Arbeit erschossen wurde. Dieser nette und liebenswürdige Mann war Orhan Gündüz, der zu dieser Zeit Ehrenkonsul der Türkei in Boston war. Ich machte einen schnellen Stopp in seinem kleinen Souvenir-Shop in Cambridge um kurz Hallo zu sagen. Wie sich herausstellte, war dies nur wenige Stunden bevor er starb. Woran ich mich sehr lebhaft erinnere ist, wie seine Mörder (eine Gruppe mit dem Namen „Justice Commandos against Armenian Genocide claimed responsibility, JCAG“) mich so sehr aus der Fassung brachten, dass ich das Thema die nächsten 25 Jahre vermied.
Wie die meisten anderen türkischen Menschen meiner Generation, war mein Wissen über die Armenier auf das beschränkt, was ich im [türkischen] Geschichtsunterricht gelernt hatte; dass die Armenier sich in den letzten Tagen des angeschlagenen Osmanischen Reiches auf die Seite der westlichen Verbündeten gestellt hatten und dafür von der Türkei und den Türken für immer als Verräter gebrandmarkt wurden.

Türkische Schulbücher unvollständig

In den zwei Jahrzehnten nach der Ermordung von Gündüz, habe ich das Thema des Völkermords an den Armeniern einfach gemieden, weil es zu unbequem, zu schmerzhaft und zu schwer für mich zu bewältigen war. Dann kam der Sommer 2006, als ich eine Einladung erhielt, um an einem armenisch-türkischen Dialog-Projekt in Boston zu arbeiten. Ich vertiefte mich in das Thema. Ich lernte die Geschichte der osmanischen Armenier, die in den [türkischen] Schulbüchern die ich als Kind gelesen hatte fehlte. Ich machte mir neue Freunde, darunter Amerikaner armenischer Herkunft mit denen ich parallele Leben geführt hatte ohne je ein Wort mit ihnen zu wechseln.
Während dieser Zeit hörte ich die Nachricht von einem Attentat. Hrant Dink, ein türkisch-armenischer Redakteur, wurde in Istanbul von einem 16-jährigen türkischen Nationalisten erschossen. Zu dieser Zeit wusste ich nicht viel über Dink. Ich wusste nur, dass er der Gründer von „Agos“ war, die erste Zeitung in der Türkei die sowohl in armenisch als auch auf türkisch gedruckt wurde, dass er die Augen seiner traditionell ruhig und passiven armenischen Gemeinde öffnete, dass er die Armenier und Türken ermutigte offen über ihre ethnischen Identitäten und deren Familiengeschichten zu sprechen und dass zahllose Menschen in der Türkei ihre verlorene armenische Abstammung durch seine Hilfe und Unterstützung wieder gefunden hatten. Das Datum war der 19. Januar 2007, 25 Jahre nachdem ich das Thema „Völkermord an den Armeniern“ begraben hatte.
In den darauf folgenden nächsten fünf Jahren nahm ich an Workshops und Veranstaltungen teil und sah unzählige Videos und Filme über den Völkermord an den Armeniern und seine Folgen. Am wichtigsten ist, ich sprach mit vielen Armeniern mit unterschiedlichen Hintergründen und Zugehörigkeiten. Ich erfuhr während dieser Bekanntschaften von den Namen der ehemaligen armenischen Dörfer und verstand nun, warum jeder Armenier den ich traf den Namen eines Dorfes nannte den ich nur durch seinen türkischen Namen kannte. Ich wurde traurig – und wütend – wegen dem Fehlen von Informationen und der Stille die ich erlebt hatte während ich in der Türkei aufwuchs.

Das „G“-Wort

Ich habe auch von meinen türkischen Freunden und Kollegen gelernt. Da alle Armenier diese Periode als „Völkermord an den Armeniern“ bezeichnen und dies auch gerne von den Türken hören möchten, gibt es einen Dialog der tauben Ohren zwischen diesen beiden Gruppen.
Viele türkische Menschen die gerade erst anfangen über ihre eigene Geschichte zu lernen haben das Gefühl, dass jedes Mal irgendjemand ihnen den Mund verbieten will, wenn sie nicht jeden Satz mit dem „G“-Wort [Genozid] beginnen.
Genozid ist das Wort, das die Ereignisse von 1915 zusammenfasst: groß angelegte Deportationen und Massaker. Für die Armenier ist dies als der „Völkermord an den Armeniern“ bekannt. Türken sprechen von denselben Ereignissen im Zusammenhang mit anderen Faktoren, die während des Zerfalls des Osmanischen Reiches aufgetreten sind. Sie leugnen nicht, das es Deportationen und sogar Morde gab. Sie erkennen die Tötung von Frauen und Kindern als Folge der Deportationen an. Aber sie tun sich schwer damit, all dies als „Völkermord“ zu bezeichnen.
Türken haben auch das Gefühl, dass mehr Aufmerksamkeit dem Druck geschenkt werden sollte der zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 und 1915 ausgeübt wurde, um ihr Land und ihre Kultur zu schützen, als das Osmanische Reich zu Ende ging und die Republik Türkei gegründet wurde.

Türken müssen Wahrheit kennen und akzeptieren

So wichtig diese Punkte auch sein mögen glaube ich, dass alle Türken eine einfache Wahrheit kennen und akzeptieren müssen: irgendwo, irgendwie, könnte ein Vorfahre von ihnen das Leben eines unschuldigen Armeniers genommen haben, und zwar nur weil diese Person Armenier war. Wenn diese Information verstanden wurde – wirklich akzeptiert, verdaut – und sich in den Herzen und Köpfe eines jeden Türken niedergelassen hat, erst dann und nur dann können wir alle ein neues Kapitel beginnen. In diesem Kapitel wird die Diskussion nicht mehr ein Streit über den Begriff „Völkermord“, die Definition des Vorsatzes oder der totalen Bilanz von Morden auf beiden Seiten sein; es wird eine einfache Diskussion über die Frage sein, die wir unseren Kindern zum nachdenken hinterlassen wollen: Wie gehen wir mit dem „Anderen“ um – das heißt, diejenigen, die als anders oder ausländischen angesehen werden.
Orhan Gündüz wurde getötet, weil er ein türkischer Diplomat war und er das fehlgeleitete Schweigen über die Massendeportationen der osmanischen Armenier aus ihrer ursprünglichen Heimat repräsentierte. Hrant Dink wurde ermordet, weil er ein Armenier aus der Türkei war, der das Wort ergriff und ein Dialog begann, so dass Armenier in der Türkei sowie Türken offen über das was wirklich im Jahre 1915 geschah reden konnten. Man könnte sagen, dass Dink geholfen hat das Tabu und Schweigen zu diesem Thema zu brechen.
Also – wo führt mich all das hin, eine amerikanische Staatsbürgerin türkischer Herkunft, in der gequälten Landschaft der armenisch-türkischen Beziehungen?
Mittlerweile verwende ich das Wort „Völkermord“ wenn ich über die Massaker von 1915 spreche. Würde ich es nicht tun wäre dies ein Zurückgehen in die Ignoranz an zwei Fronten, sowohl intellektuell als auch persönlich. Ich weiß, dass ich die wahre Tiefe der Brutalität und das Leid das den Armeniern angetan wurde, die Feindseligkeit und den Hass von 1915 der seit fast einem Jahrhundert andauert, einfach nicht leugnen kann. Auf einer persönlichen Ebene würde eine solche Leugnung ein Affront gegen all meine neuen Freunde und Bekannte darstellen – nicht nur weil sie Armenier sind, sondern weil sie Menschen sind die ich gern habe.


Gonca Sönmez-Poole ist amerikanische Staatsbürgerin türkischer Herkunft und seit 28 Jahren Mitglied der Bostoner Mediengesellschaft. Sie hat beim Fernsehen gearbeitet, sowohl innerhalb der Vereinigten Staaten als auch international und fokussierte sich bei ihrer Arbeit auf Themen zu Minderheiten. In den letzten sechs Jahren beteiligte sie sich an Dialogen und vertrauensbildenden Maßnahmen innerhalb der türkischen und armenischen Gemeinden in der Gegend von Boston.

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