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Panorama

Die türkischen Schindler

Foto: Faik Ali Ozansoy (l.), Mehmet Celal Bey (m.), Hüseyin Nesimi Bey (r.)

Gastbeitrag von Erol Ünal

Will man erfahren, wie ein Land mit seiner historischen Vergangenheit umgeht, so hilft oft ein Blick auf die Namensgebung von Straßen, Parks, Schulen, Stadtvierteln und Kulturzentren. Welche Personen werden auf die Weise geehrt und gewürdigt?

In der Türkei ist es nun über 100 Jahre her, dass der Genozid an den Armenierinnen und Armeniern zurückliegt, aber von einer Aufklärungsarbeit kann leider immer noch nicht gesprochen werden. Stattdessen zieren die Namen der Hauptverantwortlichen des Völkermords Straßen und Gebäude, denen dadurch hohe Anerkennung zuteil wird. Eine fragwürdige Vorstellung von Erinnerungskultur. Dabei gibt es durchaus tapfere Menschen aus der Vergangenheit, die im Genozid nicht den politischen Verantwortlichen, sondern ihrem Gewissen folgten, und der Würdigung gerecht wären. Es folgt eine Übersicht von einigen dieser mutigen Menschen – den türkischen Schindlern.

Faik Ali Ozansoy

Faik Ali Ozansoy (1876-1950), ein gläubiger Muslim, war der Gouverneur von Kütahya. Im Zuge der Deportationen der Armenierinnen und Armenier aus beinahe allen Teilen Anatoliens nach Deir az-Zur, in die syrische Wüste, erhielt auch er den Befehl, die armenische Bevölkerung seiner Provinz zu deportieren. Er erklärte öffentlich, dass er diese Anordnung nicht befolgen wird.

Des Weiteren verhalf er den Armenierinnen und Armeniern, die aus unterschiedlichen Gegenden deportiert wurden und in Kütahya einen Zwischenstopp machten, zur Flucht. Damit die nun mittlerweile stark angestiegene armenische Population in Kütahya nicht die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte, verteilte er die Neuankömmlinge entsprechend ihrer bisherigen Berufe in die umliegenden Orte. Nichtsdestotrotz wurde die jungtürkische Regierung über die Tätigkeiten Faik Ali Ozansoys informiert, sodass er in die damalige Hauptstadt Istanbul vorgeladen wurde, um Rechenschaft bei Talat Pascha abzulegen. Während der Abwesenheit des Gouverneurs nutzte der Polizeichef von Kütahya die Gelegenheit aus, um die Armenierinnen und Armeniern vor die Wahl zu stellen: Zwangskonversion zum Islam oder Deportation. Sie konvertierten. Womit der Polizeichef weniger gerechnet hatte war sicherlich, dass Faik Ali seinen Posten behielt und er darüber hinaus ungestraft mit seiner Arbeit fortführen konnte. Faik Ali kehrte aus Istanbul zurück und war entsetzt, als er sah, was in seiner kurzen Abwesenheit geschehen war. Er entließ den Polizeichef von seinem Posten und erleichterte den Zwangskonvertierten die Rückkehr zum Christentum. Er fuhr damit fort, eine Schule für armenische Kinder zu eröffnen und Gelder für die bedürftigen Deportierten zu spenden. Um die tausend armenische Familien hat er gerettet.

Nach dem Krieg, 1918, arbeitete er in Istanbul als Lehrer und starb 1950. Sein Grab wird heute noch von Armenierinnen und Armeniern als Zeichen der Anerkennung besucht.

Mehmed Celal Bey

Mehmed Celal Bey (1863 – 1926) war während des Völkermords Gouverneur von Aleppo, 1913 bis 1915, und von Konya, Juni bis September 1915.

Er ahnte in seiner Amtszeit in Aleppo, was den Deportierten in der syrischen Wüste bevorstehen würde und versuchte, den deutschen Konsul in Aleppo, Walter Rößler, zu überzeugen, das Deutsche Reich zu informieren, um das verbündete Osmanische Reich vom bevorstehenden Genozid abzuhalten. Das Deutsche Reich hegte allerdings kein besonderes Interesse am Wohl der Armenierinnen und Armenier. Gleichwohl gewann Mehmed Celal in Aleppo mit dem deutschen Konsul einen verdienstvollen Mitstreiter.

Deportation der armenischen Bevölkerung in Viehwagen der Anatolische Eisenbahn. (Foto: Deutsche Bank AG, Historisches Institut)

Aufgrund seiner Missachtung der Deportationsbefehle des jungtürkischen Regimes entwickelte sich Mehmed Celal binnen kurzer Zeit zu einem Dorn im Auge der Herrschenden. Also Er wurde er nach Konya versetzt. Er ging zunächst nach Istanbul, um die tragischen Geschehnisse in Aleppo den politischen Verantwortlichen zu schildern. Er sagte, dass sie einen anderen Gouverneur für Konya suchen können, wenn auch dort die Armenierinnen und Armenier vertrieben werden sollten. Ihm wurde versichert, dass dies nicht geschehen werde, woraufhin er sich dorthin begab. Bei der Ankunft in Konya merkte er sogleich, dass er betrogen worden war. Täglich kamen Tausende verwahrloste Armenierinnen und Armenier in Konya an, um von dort aus in die syrische Wüste weitergeleitet zu werden. Mehmed Celal ordnete an, die Ankömmlinge unter dem Deckmantel, es seien nicht genug Waggons für die mittlerweile 30.000 Menschen vorhanden, hierzubehalten. Eine lange Zeit des Schriftverkehrs zwischen Istanbul und Konya begann. Er sorgte währenddessen – mit Unterstützung der Angehörigen des Mevlevi-Ordens – dafür, dass sie Obdach, Kleidung und Essen bekamen.

„Meine Situation in Konya glich einem Mann am Ufer eines Flusses, der keinerlei Hilfswerkzeug hatte. Statt Wasser floss Blut im Fluss und Tausende von unschuldigen Kindern und alten Menschen, wehrlosen Frauen, kräftigen jungen Männer flossen ins Nichts. Mit meinen Händen und Nägeln rettete ich, was ich festhalten konnte, und die anderen, so vermute ich, sind ohne eine Aussicht auf Rückkehr dahingeflossen.”

Nun bekam er anders zu hören als zu seiner Zeit in Aleppo: Drohungen von höchster Instanz, denen er dennoch keine Folge leistete. Infolgedessen wurde er entlassen und Verbündete aus dem Mevlevi-Orden aus Konya vertrieben. Seine Abkehr von seinem Amt bedeutete gleichermaßen die Deportation und somit die Vernichtung der zehntausenden Armenierinnen und Armenier aus Konya.

Nach dem Krieg bekleidete er das Amt des Oberbürgermeisters in Istanbul von 1921 bis 1922, wo er dann 1926 starb.

Hüseyin Nesimi Bey

Hüseyin Nesimi Bey (1868-1915) war Landrat von Lice, das unter der Verwaltung des Gouverneurs Dr. Reşit Bey stand. Hüseyin Nesimi, bekannt für seine humanistische Einstellung, war ein Anhänger des Bektaschi-Ordens.

Als ihn die Nachricht über die Deportationen erreichte, merkte er recht bald, dass hiermit ein Massenmord beabsichtigt wurde. Zu Beginn war er bestrebt, die Deportationen zu verzögern, in der Hoffnung, damit Menschen zu retten. Armenische Männer wurden in Lice meist in nahegelegenen Höhlen exekutiert. Die Deportationszüge, die wehrlose Frauen, Kinder und alte Männer transportierten, begleitete Hüseyin Nesimi persönlich, um sie vor Übergriffen durch kriminellen Banden zu schützen. Als letzten Ausweg überzeugte er die älteren Stadtbewohner, eine Scheinehe mit armenischen Frauen einzugehen, um sie vor der Deportation zu bewahren. Sein Plan ging auf; eine Vielzahl an Armenierinnen konnte auf die Weise gerettet werden.

Seine Hilfeleistung und Missachtung der Anweisungen wurde an den Gouverneur Dr. Reşit in Diyarbakir weitergeleitet, woraufhin ein hitziger Schriftverkehr zwischen ihnen folgte. Er beschuldigte Dr. Reşit, grausam wie Dschingis Khan zu sein. Hüseyin Nesimi wurde daraufhin nach Diyarbakir zum Gouverneur einbestellt, damit man die Missstände klären könne. Er begab sich zu ihm, bis er von einer kriminellen Bande angegriffen und umgebracht wurde – eine übliche Methode Dr. Reşits, um sich seiner Gegner zu entledigen. Sein Leichnam wurde seiner Familie nicht übergeben und stattdessen an einer unbekannten Stelle begraben. Dieser Mord wurde armenischen Kriminellen angelastet.

Nachdem sich das Osmanische Reich auf der Verliererseite des Ersten Weltkrieges wiederfand und die jungtürkische Regierung sich auflöste, wurde Dr. Reşit verurteilt und eingesperrt. Er konnte zwar fliehen, doch die Polizeibeamten machten sein Versteck ausfindig, sodass er sich letztlich für den Suizid entschied.

Diese mutigen Menschen, die nicht der grausamen Politik der jungtürkischen Regierung, sondern einzig ihrem Gewissen folgten, erscheinen uns wie ein Leuchtturm aus der fernen Vergangenheit, der uns den Weg in die Zukunft erhellt. Neben der umfangreichen Aufklärung des Genozids gehören auch diese tapferen Menschen zur türkischen Erinnerungskultur.

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Quellen:

  • Bedrosyan, Raffi: The Real Turkish Heroes of 1915. The ARMENIAN WEEKLY, 29.07.2013
  • Gerçek, Burçin: Turkish Rescuers. The International Raoul Wallenberg Foundation, 2015.
  • Hür, Ayşe: 1915 Ermeni soykırımında kötüler ve iyiler. Radikal, 29.04.2013.
  • Opçin, Tuncay: Tehcirde Kol Kanat Geren Türkler. Yeni Aktüel Dergisi, 29.06.2008
  • Seropyan, Sarkis: Ali Faik Bey’in vicdan direnişi. agos, 23.04.2013
  • Şekeryan, Ari: Since I won’t commit these murders, please accept my resignation. agos, 27.03.2015

Erol Ünal studierte Geschichte und Germanistik. Er ist Autor des Buches „Der Abtrünnige“ und bloggt über Nationalismus sowie Fundamentalismus.

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