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Hilfsprojekt für geflüchtete Familien aus Bergkarabach

Foto: v.links nach rechts: Gabi Damm, Anita Meinig, Pfarrer i. R. Mikle Damm, Tilman Ludwig, vor unserem Armenienprogramm am 18.9.21 in der Kirche in Plaue. (Foto: Robby Meinig)

Ein Gastbeitrag von Gabriele Damm

„Wieder werden wir angegriffen, wieder stehen wir ganz allein. Die Welt schweigt dazu“. Das schrieb uns wenige Tage nach dem 27. September 2020 Stella, unsere armenische „Tochter“.

Wir wollten und konnten nicht schweigen. Unsere Aufrufe an Kirche und Politik blieben lange und zum großen Teil ungehört.

So beschlossen mein Mann und ich, selbst aktiv zu werden. Unser erster Spendenaufruf erschien am 17. Oktober in regionalen Zeitungen, später auch in Kirchenblättern, auf Webseiten, ging an unzählige Privatkontakte.

Wir wollten Familien, die mit ihren Kindern aus den umkämpften Gebieten fliehen mussten, zur Seite stehen. Die Bilder von endlosen Flüchtlingskolonnen ließen uns nicht los.

Zuverlässige und vertrauenswürdige Verbündete fanden wir in Liana Santrosyan und Bakur Khachikyan, den Inhabern der  kleinen Reiseagentur VizArm Travel in Jerewan, mit denen wir im Jahr zuvor durch Armenien und Arzach (Bergkarabach) gereist waren.

Genau so schnell, wie erste Spenden bei uns ankamen, erhielten Liana und Bakur Kunde von Familien, die in entlegenen Dörfern in der Provinz Tavusch gestrandet waren, in schon lange leerstehenden Häusern, ohne Heizung, ohne Strom, ohne Wasser, mit undichten Dächern, Fenstern ohne Glas, Türen, die nicht schlossen. Nach Erhalt der ersten Überweisung fuhren unsere Freunde zu solchen Familien  und überbrachten Lebensmittel, Kleidung, die sie selbst gesammelt hatten, und auch  Geld. Ihre Berichte und Fotos nach diesem ersten Besuch bei Kriegsflüchtlingen waren aufrüttelnd, erschreckend, bewegend. Auch für unsere armenischen Freunde.

Die Hilfe sollte und musste weitergehen. Weitere Spendenaufrufe folgten, dazu Berichte über dramatische Schicksale und ergreifende Fotos, die das Elend dokumentierten. So konnte anfangs in der größten Not 35 Familien geholfen werden. Die Kunde verbreitete sich und unsere armenischen Freunde erhielten immer mehr Bitten um Hilfe. Wir versuchten, auch in konkreten dramatischen Situationen –Krankenhaus, Tod, Vermisstensuche- wenigstens finanzielle Hilfe zu leisten.

Doch wie konnten wir nachhaltiger helfen? Das ist nur möglich mit Konzentration auf einige wenige Familien, die besonders hilfebedürftig waren. Da gab es die aus Schuschi stammende Familie, 5 Kinder, der Jüngste gerade drei Monate alt, ein 6 jähriger auf Grund einer nicht erfolgten Operation sprachbehindert. Oder eine weitere Familie, 4 kleine Söhne, der Vater nach einem Autounfall gelähmt. Sie hatten in einem alten Blechcontainer Zuflucht gefunden, ohne jegliche  Heizung, ohne Strom, ohne warmes Bettzeug, geschweige denn Winterkleidung. Wasser gab es am zugefrorenen Bach. Bei dem ersten Besuch unserer Helfer kamen ihnen die Kinder mit blaugefrorenen Händen entgegen gelaufen, es waren über 20  Grad Minus in diesen Novembertagen, ein langer Winter stand noch bevor. In der Behausung  gab es für diese 6 Personen zwei Schlafmöglichkeiten! Dazu litt Armen, der Vater, auch noch an immer unerträglicher werdenden Schmerzen im Oberkiefer. Das wenige Geld ging für Schmerzmittel drauf.

Die Idee, für Kinder solcher Familien Patenschaften zu begründen, kam nun auf. Wir wollten die Familien mit 50 Euro monatlich pro Kind längerfristig unterstützen und möglichst auch Kontakte zwischen den Kindern und ihren Paten aufbauen.

Mit neuen Berichten und Fotos machten wir uns auf die Suche nach Paten. Gleichzeitig musste sehr schnelle Hilfe für Armen her und eine Lösung für diese Wohnsituation.

Eine Welle der Hilfsbereitschaft folgte auf unsere Berichte bei Freunden, in den umliegenden Kirchgemeinden, in der Lokalzeitung. Wir bekamen so viel Geld zusammen, dass für diese Familie innerhalb von kürzester Zeit eine Wohnung gemietet werden konnte. Unsere armenischen Verbündeten suchten unentwegt- und fanden bezahlbaren, menschenwürdigen Wohnraum. 12 Tage nach dem ersten Besuch konnten Liana und Bakur der Familie beim Umzug helfen! Ein Bett für jede Person, Wärme, Sicherheit. Das Geld reichte für 1/2 Jahr Miete im Voraus!

Kurz nach dem Einzug der verzweifelte Anruf von Armens Frau- er hält die Schmerzen nicht mehr aus.

Die Wange wird immer dicker. An Essen seit Tagen nicht zu denken. Unsere Freunde fuhren mit dem vor Schmerz fast Besinnungslosen  (12 Schmerztabletten täglich wirkten nicht mehr!), zum Röntgen. Per Whatsapp-Foto ging die Aufnahme zu unserem Erfurter Zahnarzt. Er rief sofort zurück: Der Mann muss schnellstmöglich operiert werden, es ist lebensbedrohlich. Mehrere Tumore befinden sich im Oberkiefer. Alle von uns angeschriebenen Freunde und Verwandten halfen sofort. Bakur und Liana fanden ein Krankenhaus, einen Arzt, der sich bereit erklärte, für eine bedeutend geringere Summe zu operieren.

Nach einigem Bangen die erlösende Nachricht von der gelungenen Operation.

Schon im Dezember 2020 gab es für die 4 Söhne dieser und die 5 Kinder der zuerst erwähnten Familie Pateneltern, die mit monatlicher Überweisung für ihr Patenkind sorgten, mit ihm oder den Eltern in brieflichen oder Whatsapp- Kontakt kamen. Über die armenische Community in Deutschland fanden sich später Helferinnen beim Übersetzen der Briefe.

Für den sprachbehinderten kleinen Artur wurde das Geld für eine Operation gespendet und liegt abrufbereit. Leider ist die Operation immer noch nicht erfolgt. Wir bleiben dran und hoffen weiter für das Kind.

Die Hilfeanfragen bei unseren Freunden in Armenien rissen nicht ab. Wir hatten nach so viel Hilfsbereitschaft wenig Hoffnung, die Unterstützung von unserer Seite aus noch erweitern zu können. Oft dachten wir, dass es nun nicht mehr weiter geht, wenn in einer neuen schwierigen Situation wieder Geld benötigt wurde. Aber es gelang. Mit viel Öffentlichkeitsarbeit in Rundfunk, Presse, auf Webseiten, inzwischen auch öffentlichen Veranstaltungen, Flohmärkten und viel Erfindungsreichtum (Verkauf von selbstgemachtem Apfelsaft, zum Beispiel) gelang es uns und unseren inzwischen auch in Deutschland zahlreicher gewordenen Verbündeten (da sind ganz besonders  Anita Meinig  und Tilman Ludwig  zu nennen),  immer wieder Spenden zu bekommen, um weiterhin zu  helfen.

Nun gibt es schon Patenschaften für 22 Kinder in 5 Familien. Einige Paten kommunizieren mit ihren Patenkindern über Whatsapp oder per Mail auf Englisch oder Russisch. Bilder werden ausgetauscht.

Der Gewinn ist nicht einseitig. Den Paten eröffnet sich eine völlig neue Welt, eine andere Kultur, ein Land, von dem bisher so viel verborgen war. Wir bieten den Paten auch immer wieder Informationen an über das Land, die Geschichte, den Genozid (der uns in seinen Dimensionen immer wieder zutiefst betroffen macht), über den Karabachkrieg, aber auch über landestypische Feiertage, Bräuche, Gerichte, Musik, Literatur und Kunst. Aktuelle Informationen bekommen wir direkt aus Armenien. Mein Mann und ich nutzen viele Gelegenheiten zur Weiterbildung in Sachen Armenien: Wir durften an der digitalen Ringvorlesung über den Karabachkrieg von Frau Prof. Drost- Abgarian teilnehmen (mit ihr sind wir auch in hilfreichem persönlichen Austausch), wurden Mitglieder der DAG und nutzen hier die digitalen Vortrags- und Diskussionsrunden zu aktuellen Themen.

Unsere  zahlreiche  Literatur, Filme und CDs zu Armenien  leihen wir an die Paten aus, mit denen wir vernetzt und in gutem Kontakt sind.

Nach den monatlichen Besuchen von Liana und Bakur bei den Familien, die ihnen inzwischen  sehr ans Herz gewachsen sind, gibt es Bilder und Berichte, und die Paten können Anteil haben am Ergehen ihres Kindes und seiner Familie.

Drei Patinnen einer nun am Sevansee lebenden Familie sind Lehrerinnen an einer Montessori- Schule in Schmalkalden. Zum Tag der offenen Tür an dieser Schule konnten wir unser Projekt Kindern und Eltern vorstellen (Viele hörten hier überhaupt zum ersten Mal von dem Land Armenien). Im kommenden Jahr soll es verschiedene Veranstaltungen, einen Benefizlauf, ein Benefizkonzert, einen  Flohmarkt und ein Kuchenbüffet geben, um der Familie, die ihre Notunterkunft demnächst verlassen muss, zu einer anderen Bleibe zu verhelfen, wo sie dauerhaft wohnen kann. Unser Anliegen ist es, Zukunft und Hoffnung zu schenken.

Mit Tilman Ludwig verbindet uns die Liebe zu Armenien, wir haben uns gesucht und gefunden. Das gemeinsame Musizieren von Sharakanen oder armenischer Volksmusik mit verschiedenen Instrumenten, auch auf Duduks, ist ein besonderes Geschenk. Zum diesjährigen Genozidgedenken haben wir am Jenaer Chatschkar mit Musik, Worten und Bildern an das unsägliche Geschehen erinnert.

Tilman, Anita, mein Mann und ich bieten für Gemeinden einen Armenienabend an (den wir auch gerne vielerorts wiederholen : Armenien, so fern- so nah. Es gibt dabei Kurzvorträge zu verschiedenen Themen: Land, Christentum Geschichte, Karabachkrieg , Genozid und unser Hilfsprojekt . Dazwischen spielen wir armenische Musik mit Duduks, Orgel, Flöten, dazu laufen  im Hintergrund über Beamer eigene Bilder aus Armenien: Menschen, Kirchen, Landschaften. Im Anschluss werden Fragen beantwortet. Wichtig ist uns auch das Erklären, wie unser Projekt finanzorganisatorisch funktioniert, um ganz durchsichtig zu sein: Unsere Kirchgemeinde arbeitet eng mit uns zusammen. Das Geld wird auf das Konto vom Kirchgemeindeverband überwiesen und als Spende für Armenien oder Dauerauftrag Patenschaft kenntlich gemacht. So können Spendenbescheinigungen ausgestellt werden und es gibt ein Kontrollsystem, für welches auch Anita sich als weitere Person zuständig fühlt. Das Geld wird in monatlichen Beträgen über unser Kommerzbankkonto an Liana überwiesen. Die Überweisungskosten hier tragen wir, die Gebühren in Armenien bezahlt Liana. Einen Teil der Kosten für die monatlichen Fahrten zu den Familien wird von den Paten finanziert. So kommt das Geld ohne einen einzigen Cent Abzug bei den geflüchteten Familien an.

Über ein Jahr gibt es nun schon unsere Hilfsaktion, die so klein begonnen hat, und so viel bereits bewirken durfte. Dankbar staunen wir immer wieder neu, was erreicht werden konnte, wie viele neue Wege und Möglichkeiten sich aufgetan haben, wie viele Menschen involviert sind.

Genug Pläne für das kommende Jahr gibt es, denn der Hilfebedarf ist nach wie vor groß.

Gerade kam eine „neue“ Familie hinzu, 5 Kinder, Eltern, Großeltern, die seit über einem Jahr ohne jegliche Unterstützung in erbärmlichsten Verhältnissen leben.

Wir benötigen also auch Ihre Hilfe, seien es Patenschaften (50 Euro/ Monat pro Kind), Spenden (jeder Euro hilft) oder Ideen für weitere Bekanntmachung des Projektes.


Spendenkonto: Kirchgemeindeverband  Wachsenburggemeinde
IBAN: DE38 8405 1010 1010 0690 51 BIC: HELADEF1ILK
Stichwort: Armenienhilfe

Kontakt:

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