Vor 30 Jahren, am 2. September 1991, erklärte sich die mehrheitlich armenisch bewohnte Republik Bergkarabach mit einer entsprechenden Erklärung für unabhängig. Bislang wird der de-facto demokratische Staat allerdings von keinem Land der Welt offiziell anerkannt.
Seit 2017 nennt sich die Region Bergkarabach „Republik Arzach“, in Anlehnung an die antike Provinz Arzach des armenischen Reiches sowie das mittelalterliche armenische Königreich Arzach, die auf dem heutigen Staatsgebiet Bergkarabachs existierten.
Die überwiegend armenisch bewohnte Enklave Bergkarabach wird international zu Aserbaidschan gehörend betrachtet, weil Diktator Josef Stalin das Gebiet 1921, trotz damaliger armenischer Mehrheitsbevölkerung von 94%, die bis heute folgenschwere Entscheidung traf, das Gebiet nicht der Armenischen SSR – wie das kaukasische Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) am 4. Juli 1921 ursprünglich beschlossen hatte – sondern der Aserbaidschanischen SSR zuzusprechen. In den Jahren darauf wurden mehrere erfolglose Memoranden an Moskau gesendet, in denen der Anschluss an Armenien gefordert wurde.
EU-Parlament unterstützte Anschluss an Armenien
Ab 1988 fanden Proteste statt, die ebenfalls einen Anschluss an den armenischen Staat zum Ziel hatten. Aserbaidschan antwortete auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der armenischen Bevölkerung mit Pogromen. Von 1988 bis 1990 fanden mehrere Massaker an Hunderten ArmenierInnen in den aserbaidschanischen Städten Sumgait, Kirowabad und in der Hauptstadt Baku statt. Die anti-armenischen Pogrome führten letztendlich dazu, dass das Europäische Parlament am 12. September 1988 den Anschluss Bergkarabachs an die armenische SSR unterstützte, weil es „eine Bedrohung für die Sicherheit der in Aserbaidschan lebenden Armenier“ feststellte.
Unabhängigkeitsreferendum
Am 6. April 1990 wurde vom Obersten Sowjet der UdSSR ein Gesetz erlassen, dass den Austritt von Unionsrepubliken aus der UdSSR gemäß Art. 72 der Verfassung regelte. Auch das autonome Gebiet Bergkarabach konnte damit selbständig über den Verbleib bei der UdSSR entscheiden. Nötig dazu waren zwei Drittel aller Stimmberechtigten.
Aserbaidschan trat nach einem Putsch am 30. August 1991 aus der UdSSR ohne Abstimmung aus, worauf sich Bergkarabach am 2. September 1991 als „Republik Bergkarabach“ von Aserbaidschan löste und für den 10. Dezember 1991 eine Abstimmung dazu ansetzte.
An dem Unabhängigkeitsreferendum im Dezember 1991 nahm 82% der stimmberechtigten Bevölkerung Bergkarabachs teil. Damit war die notwendige Zweidrittelmehrheit gegeben. Von der aserbaidschanischen Minderheitsbevölkerung wurde die Abstimmung boykottiert. Die Unabhängigkeit der Republik Bergkarabach wurde von 99,98% der Wähler befürwortet. Der Nationalrat Aserbaidschans betrachtete das Unabhängigkeitsreferendum als Provokation. Baku reagierte daraufhin mit einer Blockade der Region und versuchte die Kontrolle mit militärischen Mitteln zurückzugewinnen. Ein Krieg und Konflikt begann, der bis heute andauert.
Neuer Krieg
Vom 27. September bis 10. November 2020 eroberte das autokratisch regierte Aserbaidschan in einem 44-tägigen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, mit Unterstützung der Türkei und von Ankara gesandten dschihadistischen Söldnern, weite Teile Bergkarabachs. Über 6.000 Menschen wurden in den 44 Tagen im Herbst 2020 getötet.
Ein trilaterales Waffenstillstandsabkommen, dass von Armenien, Aserbaidschan und Russland im November letzten Jahres unterzeichnet wurde, ist seit Beginn brüchig. Hunderte aserbaidschanische Soldaten befinden sich seit dem 12. Mai illegal auf armenischem Territorium. Zuletzt wurde am Mittwochmorgen erneut ein armenischer Soldat an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze auf armenischem Territorium, etwa eine Stunde von Armeniens Hauptstadt Jerewan entfernt, durch einen aserbaidschanischen Scharfschützen getötet. Die Lage bleibt weiterhin angespannt.
Völkerrecht und Anerkennung
Laut dem Völkerrechtler Prof. Dr. Otto Luchterhandt ist das Prinzip der territorialen Integrität, auf das sich Aserbaidschan bezieht, kein selbstständiges Prinzip der UN-Charta, sondern hat eine untergeordnete Bedeutung. Luchterhandt weist darauf hin, dass das Selbstbestimmungsrecht der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs in Artikel 1 der Charta der Vereinten Nationen als ein oberstes Prinzip aufgeführt ist.
Günther Baechler, von 2016 bis 2018 Spezialgesandter im Südkaukasus für den OSZE-Vorsitz, gibt an, dass der Anspruch Aserbaidschans auf territoriale Souveränität das im Völkerrecht hoch angesiedelte Selbstbestimmungsrecht des armenischen Volkes nicht aushebelt. Laut Baechler verfügt Bergkarabach, obwohl international nicht anerkannt, über sämtliche Kriterien eines de-facto Staates.
Der Konfliktforscher Dr. Leo Ensel wertet die Abspaltung Bergkarabachs von Aserbaidschan als legitim und legal, weil sie sich laut Dr. Ensel „konform zum damals geltenden sowjetischen Staatsrecht“ vollzog.
Nach dem Angriffskrieg Aserbaidschans stimmte das Parlament in Frankreich Ende vergangenen Jahres für eine Anerkennung der Republik Arzach und forderte die französische Regierung auf, dies ebenfalls zu tun. Auch mehrere US-Bundesstaaten haben die Unabhängigkeit der Republik Bergkarabach anerkannt, darunter New Jersey, Kalifornien, Maine, Louisiana, Rhode Island, Massachusetts und Georgia. Neben der italienischen Stadt Milan sowie über ein Dutzend weiterer Städte erkennt auch der australische Bundesstaat New South Wales die mehrheitlich armenisch bewohnte Republik an.