Istanbul , 19.03.2019 (KAP/KNA) Die Vorbereitungen für die Wahl eines neuen armenisch-apostolischen Patriarchen für die Türkei werden voraussichtlich nach Ende der 40-tägigen Trauerzeit für den am 8. März verstorbenen Patriarchen Mesrob II. Mutafyan beginnen. Fünf Kandidaten gelten Berichten zufolge als aussichtsreich. Innerkirchlich besteht ein Richtungsstreit im Blick auf die Haltung zur türkischen Regierung. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die den orthodoxen Armeniern von der türkischen Obrigkeit schon während der krankheitsbedingten Amtsunfähigkeit Mesrobs gemacht wurden, rechnen Beobachter in Istanbul mit einer längeren Sedisvakanz. Bereits zwischen 1922 und 1927 sowie 1944 und 1950 war das armenische Patriarchat Konstantinopel verwaist.
Am Sonntag hatte in der armenischen Marienkathedrale im Istanbuler Stadtteil Kumkapi das Requiem für Mesrob II. Mutafyan stattgefunden – mit anschließendem Begräbnis auf dem Friedhof im Sisli-Bezirk. Zahlreiche Vertreter aus der Diaspora, der Ökumene und der Politik nahmen teil, darunter der Sprecher der Regierungspartei AKP, Ömer Celik, der AKP-Kandidat für das Bürgermeisteramt Binali Yildirim sowie der Sprecher von Präsident Recep Tayyp Erdogab, Ibrahim Kalin. Mutafyan war im Alter von 62 Jahren im armenischen Krankenhaus Surp Pirgic im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu, wo er behandelt wurde, nach jahrelanger schwerer Krankheit gestorben.
Mesrob Mutafyan wurde 1956 in Istanbul geboren, wo seit dem Genozid der Jahre 1915-23 ein kleiner Rest von 70.000 der einst Millionen starken armenischen Religions- und Volksgemeinschaft in der Türkei überleben konnte. Er maturierte am amerikanischen Gymnasium in Kornwestheim bei Stuttgart und blieb Deutschland immer verbunden. Der Bundesrepublik galt noch die letzte Auslandsreise vor der Erkrankung.
Anschließend studierte Mutafyan in den USA Philosophie, Theologie und Soziologie, blieb aber im Kontakt mit seiner Vaterstadt, wo er 1977 zum Diakon und 1979 zum Priester geweiht wurde. Weitere Studien führten ihn nach Jerusalem, bis er 1982 die Pfarrei auf der Istanbul vorgelagerten Insel Kinaliada übernahm, wo viele Armenier leben bzw. ihre Ferien verbringen. Gleichzeitig wurde er Kanzler des Patriarchats und dessen Ökumene-Beauftragter.
1986 empfing Mutafyan die Bischofsweihe und setzte 1988/89 seine Studien an der Theologischen Fakultät der Dominikaner in Rom fort. 1998 wählten ihn Klerus und Volk gegen den Widerstand und die Verzögerungstaktik der türkischen Behörden zum 84. Oberhirten des armenischen Patriarchats von Konstantinopel seit dessen Errichtung 1461 durch Sultan Mehmet II.
Gleich nach seinem Amtsantritt wurde die Sorge für die Einheit der Christen Teil von Mutafyans Selbstverständnis. Er stellte sich immer wieder gegen die Diskriminierung der wenigen in der Türkei verbliebenen Armenier als Bürger zweiter Klasse. Während seiner aktiven Amtszeit wurde er wegen „Beleidigung des Türkentums“ angezeigt. 2007 verurteilte er den Mord an dem armenischen Publizisten und Zeitungsverleger Hrant Dink in Istanbul scharf und rief eine 15-tägige kirchliche Trauerzeit aus.
Den Wiederaufbau der armenischen Kirche in der asiatischen Türkei nahm der Patriarch schon früh in Angriff. Die Armenier haben den außerhalb von Istanbul und Umgebung völlig vernichteten oder vertriebenen Griechen voraus, dass ein Teil von ihnen als „Geheimchristen“ auf dem angestammten Boden ausharren konnte. Ihre Nachkommen wagten sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten wieder an die Öffentlichkeit.
Als Mutafyan im Jahr 2000 wegen Bauarbeiten im armenischen Patriarchat in seiner alten Pfarre in Kinali residierte, richtete er dort ein Katechese- und Taufzentrum für die Untergrundchristen ein. Er konnte ihnen im türkischen Anatolien sechs Kirchen und 13 Seelsorgezentren einrichten. Die Zahl der unter ihm zwischen 1998 und 2008 neu getauften Armenier wird auf 30.000 bis 50.000 geschätzt. Dazu kommen bis zu 100.000 Bürger des Staates Armenien, die in der Türkei teils legal, meist aber illegal arbeiten. Meist waren es von Oppositionsparteien gegen Staatschef Erdogan dominierte Lokalbehörden, denen der Aufbau des neuen kirchlichen Netzwerks in Anatolien mit zu verdanken war. Die 2008 ausgebrochene schwere Erkrankung und damit Amtsunfähigkeit Mesrob Mutafyans kam daher gewissen national-islamistischen Kräften in der türkischen Führung nur gelegen.
Das Patriarchat wurde in der Folge von einem Rat unter Führung von Bischof Aram Atesian geleitet. Dieser aus dem südosttürkischen Diyarbakir stammende Prälat war bis zu seinem Aufstieg seit Mutafyans Erkrankung „General-Sakristan“ des Patriarchats. 2010 wählte ihn auf Wunsch der türkischen Regierung ein 26-köpfiger Pastoralrat auch offiziell zum Stellvertreter des kranken Patriarchen. Er setzte auf gute Beziehungen zu Ankara.
Vier Bischöfe und ein junger Prälat
Als der Deutsche Bundestag 2016 eine Resolution zum Völkermord an den Armeniern verabschiedete, distanzierte sich Atesyan davon in einen Brief an Präsident Erdogan. Die in Istanbul erscheinende, von Hrant Dink gegründete armenische Wochenzeitung „Agos“ kritisierte Atesyan daraufhin scharf. Jene kirchlichen Kräften, die im Geist des kranken Patriarchen weitermachen wollten, wählten in der Folge den aus Istanbul stammenden armenischen Erzbischof in Deutschland, Erzbischof Karekin Bekdjiyan, zum Patriarchatsverweser (locum tenens). Doch die Türkei erklärte die Wahl im Februar 2018 für null und nichtig; es dürfe kein Verweser eingesetzt werden, solange Mesrob II. noch am Leben sei.
Bei der Patriarchenwahl, die frühestens nach Ostern stattfinden wird, wird es – so Insider – Druck von Erdogan geben. Dieser werde versuchen, den ihm gefügigen Aram Atesian durchzusetzen. Für die Gegenseite wäre der Wunschkandidat der aus dem Istanbuler Klerus stammende junge Prälat Damatyun Damatyan, Sohn des ebenso bewährten wie beliebten und ökumenisch verdienten Pfarrers von Kadikoy, Krikor Damatyan. Die vom türkischen Gesetz geforderte Vorbedingung, wenn schon nicht Staatsbürger, so doch in der Türkei geboren zu sein, würden noch die Erzbischöfe von New York, Khajak Barsamian, von Washington, Vicken Aykazian sowie der Bischof von Kukark im unabhängigen Armenien, Sebuh Tsuldzian, erfüllen.