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Genozid Armenien: „Wir sind ein Volk von Waisen“

Tsitsernakaberd, Armenien, Jerewan, Türkei, Völkermord, 1915

Feierliche Zeremonie am Mahnmal des Völkermords auf dem Tsitsernakaberd-Hügel hoch über der armenischen Hauptstadt Jerewan. (Foto: dapd)


Einem der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte fielen im Sommer 1915 bis zu 1,5 Millionen Armenier zum Opfer. Jedes Jahr treffen sich Familienangehörige in Jerewan, 
um der Toten zu gedenken – viele der Nachgeborenen kommen von weit her.

von Frank Nordhausen
JEREWAN. – Maria Titizian und Arsinée Khanjian sind an diesem 24. April wie in jedem Jahr mit einem Gefühl der Beklemmung aufgewacht. Jeder Armenier trage es in sich, dieses Gefühl, sagen sie. Sie haben sich festlich gekleidet und sind gemeinsam mit Hunderttausenden hinaufgegangen zum Mahnmal des Völkermords auf dem Tsitsernakaberd-Hügel hoch über der armenischen Hauptstadt Jerewan. Erwachsene, Kinder, Greise halten Blumen in der Hand, viele laufen still und in sich gekehrt.
Manche stimmen in die alten armenischen Lieder ein, die aus Lautsprechern klingen und von Leben und Tod handeln. Dann treten sie ein in das kreisrunde Mahnmal unter den zwölf Betonpylonen, halten inne, legen ihre Blumen neben der ewigen Flamme nieder. Um Mitternacht, nach der Prozession von mehr als einer halben Million Menschen, bedeckt ein Berg von Nelken, Rosen, Tulpen die Gedenkstätte. Die Wunde sei nicht verheilt, sagt am nächsten Morgen Maria Titizian, Historikerin und Schriftstellerin aus Jerewan.
„Sie klafft, bis die Täternation sich zu ihrer Verantwortung für den Genozid bekennt.“ Noch immer leugnet der türkische Nachbar das Verbrechen, obwohl Historiker es längst als Tatsache bewiesen haben. Diplomatische Beziehungen zwischen beiden Ländern gibt es nicht, die Grenzen sind geschlossen.

Eine Erleuchtung

Maria Titizian, 41 Jahre alt, eine offene, herzliche Frau, sitzt in ihrem kleinen Büro einer sozialdemokratischen Stiftung in Jerewan. Die Stiftung gehört zur Partei der Daschnaken, die im Ersten Weltkrieg den Widerstand gegen die Vernichtungspolitik der Osmanen organisiert hat. Schon ihr Großvater sei Mitglied der patriotischen Partei Armeniens gewesen, sagt Maria Titizian. Vor ihr eine Karte dieses winzigen Landes im Südkaukasus, eingeklemmt zwischen Georgien, Aserbaidschan, Iran und der Türkei, das nun tatsächlich ihre Heimat wurde. Maria Titizian gehört zu jenen Armeniern, die nach dem Ende der Sowjetunion mit ihren Familien aus dem Exil ins Land gekommen sind.
Sie sagt, sie habe ihre Entscheidung, aus Kanada nach Armenien umzusiedeln, in den elf Jahren, die sie jetzt hier lebt, nie bereut. Als sie 1998 zum ersten Mal in dieses Land kam, sei das wie eine Erleuchtung gewesen. „Ich fühlte mich wirklich zu Hause.“ In der Diaspora habe man ständig das Gefühl, fremd zu sein. „Jetzt bin ich in einem normalen Leben angekommen.“
Sie hoffe, sagt sie, dass der internationale Druck bis zum hundertjährigen Gedenken des Völkermordes im Jahr 2015 die türkische Regierung als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches zur Entschuldigung veranlasse. So wie sich die Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg für den Holocaust verantwortet habe.

„Holocaust vor dem Holocaust“

„Holocaust vor dem Holocaust“ nannte der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, was am 24. April 1915 in Konstantinopel mit der Verhaftung von 235 armenischen Intellektuellen, Musikern, Dichtern begann: die systematische Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich. Es folgten Massaker und Todesmärsche in die syrische Wüste, bei denen bis zu 1,5 Millionen Armenier umkamen. Die „vollständige Vernichtung aller Armenier in der Türkei“ hatte der osmanische Innenminister Talaat Pascha damals gefordert. Ende August 1915 verkündete er in einem Telegramm: „Die Armenierfrage wurde gelöst.“
Maria Titizians Großvater väterlicherseits gehörte zu jenen 5000 Armeniern, die in einer Bergfestung nahe dem anatolischen Antakya ausharrten. Deren Leid beschrieb der deutsche Schriftsteller Franz Werfel 1933 in seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Die Familie des damals 15-jährigen Kevork Kerekian kam mit dem Leben davon und übersiedelte zuerst nach Syrien, wo sich nach der Vertreibung große armenische Gemeinden gebildet hatten, und dann weiter nach Beirut in den Libanon.
Sie bedauere sehr, dass sie den Großvater Kevork nie kennengelernt habe, sagt Maria Titizian. Er starb verarmt während des Bürgerkrieges in Beirut. Sein Sohn hatte 1968, kurz vor dem Ausbruch der Unruhen, mit der Familie das Land verlassen und Exil in Toronto gesucht. Von all ihren Großeltern hat Maria Titizian nur die Oma mütterlicherseits kennengelernt, die in jenen Jahren ebenfalls aus dem Libanon nach Kanada auswanderte. Ihre Familie und die ihres Mannes waren 1915 fast komplett ausgelöscht worden. „Kaum jemand aus dieser Generation hat über das Erlebte geredet“, sagt Maria Titizian.

Blut und Leichen überall

Ein einziges Mal habe die Großmutter ihr Schweigen gebrochen. Sie erzählte ihrer Tochter von der Erinnerung an damals. „Sie war noch ein Kind. Sie sprach davon, wie sie durch ein Gebäude in ihrer Heimatstadt Urfa lief, wie sie in Blut watete und überall Leichen lagen.“ Maria Titizian sagt, ihre Großmutter sei kein sehr warmherziger Mensch gewesen. „Vielleicht wegen der schrecklichen Erlebnisse.“
Wenn Armenier ihre Familiengeschichten erzählen, handeln diese von Vertreibung und Misshandlung, von Flucht und Rettung, vom Verlieren und Finden der Angehörigen. „Wir sind ein Volk von Waisen“, sagt Maria Titizian. In Jerewan ist das am Gedenktag beinahe körperlich zu spüren. Stille lastet auf der Stadt.
Bis vor vor zehn Jahren nahm außerhalb des Landes kaum jemand von diesem Datum Notiz. Das hat sich geändert. Der Gedenktag ist ein Ereignis von globaler Bedeutung geworden, dem auch Präsident Barack Obama mit ehrenden Worten Rechnung trug. Sehr viele der circa sieben Millionen Auslands-Armenier leben heute in den USA, Russland und Frankreich.
Zum Gedenktag sind Tausende von ihnen nach Jerewan gereist. Für Maria Titizian Gelegenheit, endlich Arsinée Khanjian wiederzusehen, ihre Freundin aus Toronto. Während in Maria Titizians Familie über den Genozid nie gesprochen wurde, ist Arsinée Khanjian mit der Erinnerung daran aufgewachsen. So unterschiedlich die Erfahrungen der beiden Frauen mit den Traumata ihrer Familien war, so sehr ist deren Bewältigung ihr Lebensthema geworden. Maria Titizian hat nach ihrem Studium in Toronto an einem Institut zur Erforschung von Völkermorden gearbeitet, das damals die letzten noch lebenden Zeitzeugen des Genozids mit der Videokamera interviewte. Eines Tages im Jahr 1985 hat sie dort Arsinée Khanjian getroffen. „Sie kam in den Raum gewirbelt wie ein Tornado“, erinnert sie sich.

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Wunsch nach Gerechtigkeit

Arsinée Khanjian hat Politikwissenschaft studiert, bevor sie Schauspielerin wurde und auch in Filmen ihres Ehemanns Atom Egoyan mitwirkte. Die heute 53-Jährige kam ebenfalls im Libanon zur Welt. „Als ich als Teenager nach Kanada kam, dachte ich, wir würden nach sechs Monaten wieder zurückgehen in mein geliebtes Beirut. Aber wir sind in Toronto geblieben“, sagt sie.
Arsinée Khanjians Großeltern mütterlicherseits stammten aus Diyarbakir in Südostanatolien und gehörten zu den wenigen Überlebenden ihrer Familien. Die Großmutter war 1915 zwar erst 15 Jahre alt, aber schon verheiratet. Ihr Ehemann wurde ermordet, ihr Sohn Hagop vor ihren Augen getötet, sie selbst während der Deportation vergewaltigt. „Ich fragte meine Oma einmal, wie ist dein Sohn gestorben? Und sie sagte, die Türken wollten ihn ihr wegnehmen, sie habe sich gewehrt, da hätten sie dem kleinen Hagop den Kopf eingeschlagen.“ Der Vater ihres Vaters verlor seine gesamte Familie, und da er erst sechs Jahre alt war, als er in ein syrisches Waisenhaus kam, kannte er nur seinen Vornamen Kharpert. „Sie fragten ihn, was hat dein Vater gemacht, und er antwortete: Schuhe repariert. Deshalb nannten sie ihn Goshgarian, Schuhmacher.“
In Arsinée Khanjians Familie spielt es eine große Rolle, armenisch zu sein. „Ich sprach Armenisch, ging auf eine armenische Schule und in die armenische Kirche, alle meine Freunde in Beirut waren Armenier.“ Sie sagt, sie sei mit dem unbedingten Wunsch nach Gerechtigkeit für die vielen Toten aufgewachsen. „Ich interessierte mich für die Schauspielerei, engagierte mich für die Umwelt, für Frauenrechte – aber vor allem für Armenien. Deshalb war es wie ein Wunder, als es plötzlich 1991 einen armenischen Staat gab.“
Ihr Mann Atom Egoyan, mit dem sie seit fast dreißig Jahren zusammenlebt, stammt aus einer armenischen Familie, die über Ägypten nach Kanada ausgewandert ist, im Unterschied zu ihr konnte er aber kaum Armenisch. „Doch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entschlossen wir uns sofort, nach Armenien zu reisen und dort einen Film zu drehen.“ So entstand eine halbdokumentarische Annäherung an die fremde Heimat mit dem Titel „Calendar“, die 1993 auf der Berlinale lief. „Ich sah mich um, sah den Berg Ararat, von dem ich immer geträumt hatte. Aber ich sah auch die Menschen, die jahrzehntelang im Sowjetsystem gelebt hatten und dachte, das sollen also die Leute sein, zu denen ich gehöre?“
Immer wieder reiste das Paar seither in den Kaukasus und drehte 2001 mit „Ararat“ einen der ersten Spielfilme, der den Genozid behandelt. Seit Jahren ist Atom Egoyan auch Präsident der Filmfestspiele von Jerewan. Beide sind etabliert in Armenien, aber zurückzuwandern sei für sie nie eine Option gewesen, sagt Arsinée Khanjian, nicht nur in den schlimmen Jahren der Energieknappheit, des Zusammenbruchs der Wirtschaft, des Krieges mit Aserbaidschan um die Exklave Berg-Karabach. „Es würde wegen unserer Verpflichtungen in Kanada und den USA nicht funktionieren“, sagt sie. Sie bedauert nur, dass ihr Sohn Arshile nicht besser Armenisch spricht.

„Manchmal habe ich Mitleid mit den Türken“

Am Abend vor dem Tag der Erinnerung war sie mit ihrer Freundin Maria am Opernhaus in Jerewan, wo die Jugend der Daschnak-Partei ihren jährlichen Umzug mit Fackeln und Kerzen zum Mahnmal machte. Unter die Demonstranten hatten sich auch Extremisten gemischt, die ultranationalistische Parolen brüllten, einige verbrannten eine türkische Fahne. Einige Jugendliche jubelten dazu.
Arsinée Khanjian und Maria Titizian waren entsetzt, als sie das sahen. „Sie lassen dort ihren Hass und ihre Frustration raus“, sagt Arsinée Khanjian. Sie ist sich sicher, dass eine Versöhnung mit der Türkei möglich sei – aber nur im Dialog. Wie alle glaubt sie, dass die Türken den ersten Schritt machen müssten. Sie selbst ist ein einziges Mal in die Türkei gereist – um den Berg Ararat, das nationale Symbol der Armenier, zu besteigen. Die Einladungen zum Istanbuler Filmfestival hätten sie und ihr Mann stets ausgeschlagen.
„Manchmal habe ich Mitleid mit den Türken“, sagt sie, „denn man hat sie zu Geiseln einer nationalistischen Ideologie gemacht. Man hat ihnen ihre eigene Geschichte geraubt, sei sie nun gut oder schlecht.“

Die Geschichten erzählen

Bei einem Stadtbummel durch Jerewan entdeckt sie in einem der vielen Souvenirgeschäfte, die vor allem Kunden aus der Diaspora anlocken, eine DVD ihres Films „Ararat“. Sie spielt darin neben dem armenisch-französischen Chansonnier Charles Aznavour die Hauptrolle. In der Türkei war dieser Film nach seiner Kinopremiere vor zehn Jahren zunächst verboten. „Herabwürdigung des Türkentums“, lautete die Begründung. Atom Egoyan und Arsinée Khanjian wurden von den türkischen Behörden eine Zeit lang mit einem Einreiseverbot belegt.
Arsinée Khanjian bittet den Verkäufer, die DVD in den Rekorder zu legen und vorzuspulen bis zu der Szene, in der sie, eine Schauspielerin, und Aznavour, ein Regisseur, sich erstmals begegnen. „Woran arbeiten Sie?“, fragt sie. Aznavour antwortet: „Meine Mutter ist eine Überlebende des Genozids. Mein Leben lang habe ich mir vorgenommen, einen Film zu machen, in dem sie ihre Geschichte erzählt.“ Das ist es, sagt Arsinée Khanjian. Es geht darum, die Geschichten zu erzählen.

(Quelle: Frankfurter Rundschau)
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