von Professor Dr. Otto Luchterhandt
Die Unabhängigkeit der Republik Bergkarabach (Arzach) hat ihre maßgebende völkerrechtliche Rechtsgrundlage im Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Seine Respektierung und Verwirklichung ist ausdrücklich als eines der „Ziele der Vereinten Nationen“ anerkannt (Art. 1 Nr. 2; Art. 55 UNO-Charta). Den rechtlichen Inhalt des Prinzips bestimmen die identisch formulierten Art. 1 Abs. 1 der beiden 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakte der Vereinten Nationen vom 16. Dezember 1966 über zivile und politische bzw. über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Es besteht in dem „Recht aller Völker, frei und ohne Einmischung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten“. Die Befugnis, auch über den politischen Status frei zu entscheiden, haben die Vereinten Nationen 1970 im (fünften) Grundsatz „Principle of Equal Rights and Self-Determination of peoples“ der Friendly Relations Declaration mit der Anerkennung folgender „Möglichkeiten“ konkretisiert:
- Gründung eines souveränen und unabhängigen Staates;
- freie Assoziation mit einem unabhängigen Staat;
- freie Eingliederung in einen unabhängigen Staat;
- Eintritt in einen anderen vom Volk frei bestimmten unabhängigen Status.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat die Qualität von „zwingendem Recht“ (ius cogens). Es gehört damit zu den höchstrangigen Normen des Völkerrechts. Verträge zwischen Staaten, die dem Prinzip widersprechen, sind nichtig.
Das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker steht, wenn es um die Abspaltung (Sezession) eines Volkes von seinem Mutterstaat (parent state) geht, in einem rechtlichen Spannungsverhältnis zu und im Konflikt mit dem Völkerrechtsprinzip der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Nr. 1 UNO-Charta) und mit dem damit verbundenen Prinzip ihrer territorialen Integrität (vgl. Art. 2 Nr. 4 UNO-Charta). Beide Prinzipien – das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts und das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten – können je nach den konkreten politischen Umständen jeweils ein unterschiedliches – höheres oder geringeres – Gewicht haben. Das hat rechtliche Auswirkungen darauf, welches der beiden Prinzipien sich gegenüber dem anderen durchsetzt.
Selbstbestimmungsrecht Arzachs über territorialen Integrität Aserbaidschans
Im Falle der armenischen Republik Arzach (bzw. Bergkarabach) setzt sich das Selbstbestimmungsrecht gegenüber der Souveränität und territorialen Integrität der Republik Aserbaidschan durch, denn die Armenier, die noch zur Zeit der Sowjetunion die Republik Arzach/Bergkarabach gegründet haben, erfüllen erstens die Kriterien eines „Volkes“ im Sinne des Selbstbestimmungsrechts und sie können, zweitens, die höchste Form und Stufe des Selbstbestimmungsrechts, d. h. die Sezession von der Republik Aserbaidschan und die Gründung eines eigenen (National-)Staates, für sich in Anspruch nehmen.
Die Anerkennung der Tatsache, dass die Armenier von Bergkarabach die Eigenschaft und Qualität eines „Volkes“ im Sinne des Selbstbestimmungsrechts haben, liegt konkludent bereits darin, dass sie 1924 innerhalb der Sowjetrepublik Aserbaidschan ein eigenes, autonomes Gebiet erhalten haben, denn in dem an die Sowjetrepublik Armenien angrenzenden „Autonomen Gebiet Bergkarabach“ bildeten die Armenier mit ca. 85 Prozent der Einwohner die erdrückende Mehrheit. Die Qualität eines Volkes im Sinne des Völkerrechts haben die Armenier Bergkarabachs bis zum Ende der UdSSR nicht verloren.
Das Recht zur Bildung eines eigenen Staates hatten die Armenier des ehemaligen „Autonomen Gebiets Bergkarabach“, weil sie kraft Völkerrecht zur Sezession von der Sowjetrepublik Aserbaidschan berechtigt waren und die Sezession in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht erfolgreich vollzogen haben.
Berechtigt zur Sezession
Zur Sezession ist gemäß dem völkerrechtlichen Prinzip des Selbstbestimmungsrechts ein Volk dann berechtigt, wenn es als fremde Ethnie von dem Mutterstaat (parent state) so schwerwiegend diskriminiert und unterdrückt wird, dass den Angehörigen des Volkes politische Loyalität gegenüber der Regierung und ein Verbleib in dem fremdnationalen Mutterstaat nicht mehr zugemutet werden kann. Die sogenannte „redemial secession“ ist heute ein von der Völkerrechtslehre anerkanntes Rechtsinstitut. Es steht in engstem Zusammenhang mit dem UN-Konzept der „responsibility to protect“, die mit der traditionellen Vorstellung bricht, der Staat und seine Machthaber seien kraft der staatlichen Souveränität berechtigt, mit ihren Bürgern beliebig umzuspringen.
Die Armenier haben jene Erfahrung der Diskriminierung und Unterdrückung in der Sowjetrepublik Aserbaidschan insbesondere in der Schlussphase der UdSSR gemacht, als sie nach Maßgabe des sowjetischen Staatsrechts den Versuch unternahmen, friedlich und in demokratischen Schritten (Massenpetitionen; Parlamentsbeschlüsse; Referendum) das Selbstbestimmungsrecht im Staatsverband der Sowjetunion zu realisieren (1986-1991). Daran gehindert, sahen sich die Armenier von Bergkarabach gezwungen, nun gestützt allein auf das Völkerrecht, ihr Selbstbestimmungsrecht im Wege eines Unabhängigkeitskrieges gegenüber der gerade selbst erst unabhängig gewordenen Republik Aserbaidschan durchzusetzen (1992-1994). Das ist der Republik Arzach mit Unterstützung der Republik Armenien und der weltweiten armenischen Diaspora erfolgreich gelungen. In dem dreiseitigen, am 11. Mai 1994 in Bischkek mit der Republik Armenien und der Republik Arzach geschlossenen Waffenstillstandsabkommen und weiteren dreiseitigen Abkommen hat die Republik Aserbaidschan Bergkarabach in völkerrechtlich relevanter Form als Vertragspartner und eigenständige Partei in dem Konflikt behandelt.
Das Recht der Armenier und der Republik Bergkarabach zur Sezession kraft remedial secession ist stärker als der von Aserbaidschan erhobene Souveränitätsanspruch, denn 1992/1993, also unmittelbar nach dem Untergang der Sowjetunion, stand die Souveränität der Republik Aserbaidschan auf schwachen Füßen. Im Lande herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände, und die Republik war noch kein voll etabliertes souveränes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft. Gegenüber dem von der Republik Arzach geltend gemachten Selbstbestimmungsrecht, dessen rechtliche Elemente auf Seiten der Armenier Bergkarabachs besonders stark und nachhaltig ausgeprägt waren und seither noch weitaus stärker ausgeprägt sind, hatte und hat Aserbaidschans Souveränitätsanspruch ein weitaus schwächeres Gewicht.
Als die Republik Aserbaidschan etwa 1994/1995 schließlich zu einem vollwertigen souveränen Staat und Völkerrechtssubjekt erstarkt war, hatte sich die Republik Arzach längst von ihr gelöst. Sie war und ist von der Republik Aserbaidschan bis heute von einer klaren Grenze an der Waffenstillstandslinie von 1994 („Kontaktlinie“) definitiv getrennt, verfügt über eigene, demokratisch legitimierte und funktionsfähige staatliche Organe unter Einschluss einer eigenen, international anerkannt starken Armee und ist von der Republik Aserbaidschan gänzlich unabhängig.
Republik Arzach erfüllt alle Kriterien eines de facto-Staates
Die Republik Arzach/Bergkarabach ist zwar international nicht anerkannt, aber sie erfüllt alle Kriterien eines de facto-Staates und besitzt deswegen nach international anerkannter Völkerrechtslehre partielle Völkerrechtssubjektivität. Die wichtigste Konsequenz daraus ist, dass die Republik Arzach gegen Angriffe von außen durch das allgemeine völkerrechtliche Gewaltverbot gemäß Art. 2 Nr. 4 der UNO-Charta geschützt wird und sich im Falle seiner Verletzung – im Prinzip nicht anders als die Republiken Aserbaidschan und Armenien – auf das völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht (Art. 51 UNO-Charta) berufen kann. Es kann und darf, wie Art. 51 Satz 1 ausdrücklich erklärt, nicht nur „individuell“, also von der Republik Arzach allein, sondern auch „kollektiv“ ausgeübt werden. Militärische Hilfeleistung an die Republik Arzach/Bergkarabach von Seiten der Republik Armenien oder auch von der Russländischen Föderation würde deswegen keine Verletzung des Völkerrechts bedeuten.
Im Original erschienen auf dearjv.de. Professor Dr. Otto Luchterhandt ist Rechtswissenschaftler und lehrte von 1991 bis 2008 als Professor für Öffentliches Recht und Ostrecht an der Universität Hamburg und war Direktor der Abteilung für Ostrechtsforschung. Von 2003 bis 2012 war er Präsident des Göttinger Arbeitskreises.