Eine türkische Zeitung begann eine interessante Diskussion über die Herkunft von Atatürk, den „Vater der Türken“. Atatürk soll einem neuen Buch zufolge armenischer Herkunft sein.
von Orhan Kemal Cengiz
Die türkische Tageszeitung „Radikal“ startete eine recht interessante Diskussion über die familiäre Herkunft von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der türkischen Republik. Die Radikal berichtet, basierend auf dem in Kürze erscheinenden Buch „From Mustafa to Kemal: Atatürk’s Big Secret“ (Von Mustafa zu Kemal: Atatürks großes Geheimnis) geschrieben von Fatih Bayhan, dass die familiäre Herkunft von Atatürk nicht in Thessaloniki liegt, wie allgemein angenommen wird, sondern in der östlichen Provinz Malatya. Bayhan behauptet, dass Atatürks Familie von Malatya nach Thessaloniki auswanderte.
Nach dieser neuen Version seines Lebens, waren Atatürks leibliche Eltern Menschen die in Malatya gelebt haben und Atatürks anerkannte Mutter Zübeyde Hanım, war in Wirklichkeit seine Tante. Der Autor schreibt, dass Atatürk nach Thessaloniki geschickt wurde, als sein leiblicher Vater starb und von Zübeyde Hanım adoptiert wurde, als seine Mutter starb. Das Buch soll auf offiziellen Regierungs-Aufzeichnungen und Unterlagen beruhen die zum ersten Mal öffentlich gemacht werden.
Viele Lügen und Legenden in der türkischen Geschichte
Ich will Sie nun nicht weiter mit all diesen Details belästigen. Diese Behauptung muss natürlich nachgewiesen werden. Allerdings wäre ich nicht überrascht wenn sich herausstellt, dass sie wahr ist. Ein Großteil der Geschichte in der Türkei basiert auf so vielen Lügen und Legenden die alle geschaffen wurden, um einige grundlegende Tatsachen in unserer Vergangenheit zu leugnen. Türkische offizielle „Historiker“ haben nie gezögert die türkische Geschichte nach den Bedürfnissen unserer offiziellen Ideologie und den der so genannten „höheren Interessen“ des türkischen Staates zu verbiegen.
Malatya war einer der Provinzen, die in der Vergangenheit mehrheitlich von Armeniern besiedelt war. Wenn diese neue Version der Herkunft von Atatürk wahr ist, ist die erste Frage die in den Sinn kommt, warum türkische Historiker die allgemein bekannte Version seines Lebens fabriziert haben. Haben sie diese offizielle Version geschrieben, um keine Verbindung zwischen Atatürk und anatolischen Armeniern aufkommen zu lassen? Wenn die neue Geschichte wahr ist, muss es einen Grund geben.
Die Fakten der türkischen Geschichte werden immer noch von vielen Tabus umgeben, von denen einige den Tod von Menschen verursacht haben. Sie wissen wie die tragischen Ereignisse die zu der Ermordung von Hrant Dink geführt haben begannen. Er hat es einfach nur gewagt zu sagen, dass Atatürks Adoptivtochter Sabiha Gökcen (erste Kampfpilotin der Welt) in der Tat ein armenisches Waisenkind war. Dieser Aufdeckung folgte eine Lynchjustiz-Kampagne gegen Dink und er wurde getötet.
Heutzutage scheinen die Mauern um die Tabus die unsere Geschichte umgeben schwächer zu werden. Der türkische Professor Ayhan Aktar schreibt weiterhin über einige Tabus der türkischen Geschichte. Einer der Geschichten die er erzählt handelt von den Dardanellen Kriegen. Laut Aktar, war einer der Helden dieses Krieges Hauptmann Sarkis Torosyan, ein armenischer Bürger im Osmanischen Reich. Torosyans Geschichte ist herzzerreißend. Torosyan war ein mit zahlreichen Orden ausgezeichneter Schütze und wurde während der Verteidigung der Dardanellen verwundet. Er wurde später an den Ort transportiert, an den seine Familie deportiert worden war, dem heutigen Palästina. Dort entdeckte er seine Schwester in Lumpen und hörte, dass seine Verlobte an Tuberkulose sterben würde. Er erfuhr zudem, dass seine Eltern auf dem Weg getötet wurden. Während er sein Land (die heutige Türkei) bis zum Tode verteidigte, hatte man seine Familie und Lieben gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben.
Diese Geschichte steht natürlich in keinem einzigen türkischen Schulbuch geschrieben und den meisten Menschen in der Türkei ist die Geschichte unbekannt. Einige mögen denken, diese Geschichte ist nur ein winziges Detail in der türkischen Geschichte, aber ich denke, es ist ein sehr bedeutender und wichtiger Teil. Die wahre Geschichte eines armenischen Hauptmanns, der einen heroischen Krieg in den Dardanellen kämpfte ist eine enorme Belastung für das türkische Gewissen. Dies liegt daran, dass ein einzelnes Ereignis die Fähigkeit hat, alle unsere schmerzhaften Erinnerungen über unseren lange verlorenen Nachbarn und über unsere Vergangenheit hervorzubringen.
Wie ich bereits in dieser Kolumne sagte, konfrontieren die Menschen ihre Vergangenheit indem sie ihre Herzen für die Geschichten von anderen öffnen, indem sie den Schmerz und die Angst an der sie gelitten haben nachempfinden – ein Prozess, der in der Türkei bereits begonnen hat. Doch wir haben noch einen langen Weg vor uns.
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Orhan Kemal Cengiz ist ein türkischer Anwalt, Journalist und Menschenrechtsaktivist. Er ist Präsident und Mitgründer der „Human Rights Agenda Association“. Er schreibt für die türkischen Zeitungen „Today’s Zaman“ und „Radikal“.