Der Taksim-Platz ist, wie zuvor der Tahrir-Platz in Ägypten und der Zuccotti Park in New York, nur ein weiterer Raum in einer Stadt: es hätte noch so ein Ort sein können, um Freunde zu treffen, oder um ein Buch unter einem Baum zu lesen. Aber der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan entschied, die osmanische Topçu-Militärbaracke auf dem Gelände zu replizieren und ein Einkaufszentrum sowie eine Moschee zu bauen.
von Emily Greenhouse
Ende Mai begannen mehrere Dutzend Umweltschützer gegen Erdoğans Entwürfe im Gezi Park friedlich zu protestieren und wurden von türkischen Polizisten mit Tränengas und Wasserwerfern angegriffen. Schon sehr bald schrieb die Autorin und Journalistin Elif Batuman, dass „nur fünfzehn Prozent gegen die Zerstörung der Bäume protestierten, während neunundvierzig Prozent gegen die Polizeigewalt protestierten.“ Seitdem wurden fast achttausend Demonstranten verletzt. Inzwischen hat sich der Protest in einen Einwand gegen die religiöse Agenda Erdoğans und seine autoritäre Herrschaft verwandelt. Heute ist der Taksim-Platz nicht mehr nur ein Gewirr von Menschen und Plätzen, sondern ein Synonym für einen Kampf der Ideen, eine Bewegung, ein Schlachtfeld.
Betrachtet man die Symbolik, mit der der Platz erfüllt wurde, ist es eine unheimliche und unangenehme Tatsache der Geschichte, dass für ein ganzes Volk der Taksim-Platz bereits die Zerstörung der Vergangenheit darstellt. In einer Gasse im Gezi Park installierten Aktivisten kürzlich ein provisorisches Grab mit der Aufschrift: „Armenischer Friedhof Sourp Hagop, 1551-1939: Ihr habt uns unseren Friedhof genommen. Unseren Park werdet ihr nicht bekommen!“
Größter nicht-muslimischer Friedhof in der Geschichte Istanbuls
Für die meisten mutigen Demonstranten in Istanbul ist die Tatsache unbekannt, dass vor Jahrhunderten die Mitglieder der armenischen Gemeinde in Istanbul unter genau dem Platz begraben wurden auf dem sie heute stehen. Im sechzehnten Jahrhundert, als Süleyman I. Sultan des Osmanischen Reiches war, heißt es, dass eine Gruppe von Verschwörern mit einem Plan an den kaiserlichen Chefkoch, Manuk Karaseferyan, herantrat. Karaseferyan sollte das Abendessen des Sultans vergiften und ihn auf diese Weise töten. Karaseferyan jedoch, informierte den Sultan über den Mordauftrag. Dieser bot ihm als Dank einen Gefallen an und Karaseferyan bat um einen Platz für sein Volk, die Armenier, um begraben werden zu können. Der armenische Pangalti Friedhof wurde zum größten nicht-muslimischen Friedhof in der Geschichte von Istanbul.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, gab es zwei Millionen Armenier im Osmanischen Reich. Gegen 1922 waren weniger als vierhunderttausend übrig geblieben – ein Massaker an 1,5 Millionen Menschen, welches Historiker einen Völkermord nennen. (Das Wort „Völkermord“ wurde von Raphael Lemkin, einem jüdischen Rechtsanwalt und Holocaust-Überlebenden, aufgrund seiner Studie zu den armenischen Massakern gegründet.) Die Kampagne gegen die Armenier beinhaltete die Konfiszierung ihrer Länder, wie etwa den Friedhof. Dieser wurde in den 1930er Jahren dem Erdboden gleichgemacht. Heute ein Teil des Gezi Parks, stellt es einen Platz für Hotels, Mehrfamilienhäusern und einer türkischen Radio- und Fernsehstation dar. Die Grabsteine sind weiterhin sichtbar, aber: sie wurden verwendet, um die Treppen und die Fontaine des Gezi Parks zu konstruieren.
Auch beinahe einhundert Jahre später hat die türkische Regierung den Völkermord an den Armeniern nicht anerkannt. Nur wenige Armenier sind in der Türkei verblieben. Die Washington Post veröffentlichte kürzlich einen Artikel über eine ältere Frau namens Asiya – die letzte Armenierin in Chunkush, einer Stadt, die einst Heimat für zehntausende Armenier war.
Armenisches Völkermord-Denkmal in Istanbul
Im Jahr 1919 wurde ein Denkmal für den Völkermord an den Armeniern auf dem Pangalti Friedhof errichtet, welches aber 1922 zerstört wurde, Jahre vor Errichtung des Gezi Parks. (Das Denkmal ist bis heute nicht wieder aufgetaucht und gilt als verschwunden). Jedes Jahr organisiert die türkische Menschenrechtsgruppe „DurDe“ ein stilles Gedenken am 24. April, der Tag der weithin als Auftakt zum Völkermord angesehen wird, da an diesem Tag im Jahre 1915 mehrere hundert armenische Intellektuelle gefangen genommen und hingerichtet wurden. DurDe beabsichtigt das Völkermord-Denkmal im Gezi Park neu zu installieren, aber der Druck von Nationalisten hat dies bislang verhindert. Cengiz Algan, ein Mitglied der DurDe, sagte der französischen Tageszeitung „Le Monde“: „Alle politischen Parteien töten sich gegenseitig, aber wenn es um die Armenier geht, gibt es immer einen Konsens.“
Diejenigen die in der Türkei gegen Erdogan protestieren wollen ihre Freiheiten ausleben und ihre Vergangenheit ehren, frei von Tränengas, Blutvergießen, Verleugnung oder Schmerzen. Sie sind nicht allein.
(THE NEW YORKER)