Kolumne: Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit
von Daniel Jonah Goldhagen
Wie der Holocaust selbst ist auch die Holocaust-Leugnung ein oft missverstandenes Phänomen. In ihrer nacktesten Form bedeutet sie die Leugnung der historischen Tatsache, dass in der Nazi-Zeit Deutsche, unter tätiger Mithilfe anderer Europäer wie etwa Ukrainern, die Juden Europas ermorden wollten und etwa sechs Millionen von ihnen brutal umbrachten. Andere, leicht abgeschwächte Formen leugnen nicht den Holocaust in Gänze, sondern zentrale Aspekte wie die Existenz von Gaskammern oder die Zahl der Opfer. In stärker abgeschwächten Formen wiederum sagen die Holocaust-Leugner wenig über die Verbrechen oder Täter und greifen stattdessen Überlebende oder Wissenschaftler an und nennen sie Betrüger. Zur Holocaust-Leugnung gehören verschiedenste Versuche, Zweifel zu streuen und Verwirrung zu stiften, um im Effekt die Geschichte zu verfälschen und eine Fiktion zu fabrizieren. Verteidiger der Ehre der Deutschen oder der Ukrainer oder anderer Europäer, Antisemiten, Feinde Israels, Propagandisten unterschiedlichster Couleur – sie alle begreifen die Wahrheit über den Holocaust als schädlich für ihre Sache.
Die Holocaust-Leugnung ist die bekannteste und am weitesten verbreitete Form der Genozid-Leugnung, aber sie ist weder die einzige noch die älteste. […] Die französische Gesetzgebung hat die Leugnung des türkischen Genozids an den Armeniern im Ersten Weltkrieg unter Strafe gestellt, ein Gesetz, das der französische Verfassungsrat gestoppt hat. […] Bei allen Unterschieden ist jedes dieser Ereignisse Ausdruck oder Folge der Leugnung eines Massenmords, wobei in jedem Fall hochrangige Politiker an der Spitze der Leugnungsbewegung stehen. Leugnungsbewegungen schüren den Zweifel am Massenmord an den Tutsi im Jahr 1994, am serbischen Massenmord an den Bosniern während des Jugoslawien-Kriegs und an den von den Kommunisten unter Mao begangenen Massenmorden in China.
„Türken von ihrer Regierung mit Lügen gefüttert“
Die Leugnung des Mordes an 1,5 Millionen Armeniern durch die Türken ist die älteste und wahrscheinlich wirkungsvollste Leugnung eines Genozids. Sie unterscheidet sich von der Holocaust-Leugnung insofern, als die Türkei tatsächlich das Aussprechen der Wahrheit über diesen Genozid kriminalisiert hat, und der türkische Staat, ob unter militärischer, ziviler, säkularer oder religiöser Führung, die fälschliche Darstellung dieses historischen Ereignisses zur politischen Haltung erklärt hat. Während die Deutschen fortgesetzt mit den Verbrechen ihrer Landsleute konfrontiert werden, sind die meisten Türken von ihrer Regierung mit Lügen gefüttert worden, hat man sie nie mit den Verbrechen an den Armeniern konfrontiert und lässt sie im Glauben, dass die Rede vom Genozid ein Versuch sei, den Namen der Türkei in den Schmutz zu ziehen.
Sämtliche Überlebende eines Genozids sagen das gleiche: Wir wollen, dass die Wahrheit erzählt wird. Wir wollen, dass die Menschen wissen, was geschehen ist, damit es nicht noch einmal geschieht. Bei der Arbeit an meinem Film „Worse Than War“ habe ich das wieder und wieder zu hören bekommen, auch in Guatemala. Als ich aber Ríos Montt für den Film interviewte, sagte er bloß: „Wäre ich verantwortlich, wäre ich im Gefängnis“ – als bewiese seine Freiheit seine Unschuld. Jetzt klingt diese Behauptung noch hohler als damals. Jetzt geht der Wunsch der Überlebenden vielleicht in Erfüllung. Jetzt sollte die Leugnungsbewegung in Guatemala Widerstand erfahren.
Wir sollten den Wunsch der Überlebenden nach Wahrheit und Gerechtigkeit überall auf der Welt erfüllen. Und das bedeutet, dass wir, wie hoch die politischen Kosten vorübergehend auch sein mögen, darauf bestehen, dass die Wahrheit über alle Genozide erzählt wird, den Massenmord der Türken an den Armeniern eingeschlossen. Wer das nämlich nicht tut, verlängert einen moralischen Skandal und wirft ein schlechtes Licht auf alle, die die Holocaust-Leugnung verdammen und bekämpfen.